"Der Hauptschlüssel" - Buchrezension

Allgemeine Infos:
Titel: "Der Hauptschlüssel"
Originaltitel: "Oi Naru Genei" (大いなる幻影, Ōinaru Gen'ei)
Autor: Masako Togawa
Übersetzung: Aus dem Englischen von Helma Giannone ["The Master Key"]
Erscheinungsdatum:  1962 (J), 1991 (D)
Originalpreis: 13,- DM (meine alte Ausgabe. Die aktuelle vom Unionsverlag: 13€ (D))
Verlag: Argument Verlag (meine alte Ausgabe); Aufbau-Verlag
Auflage meines Buchs: 2. Auflage
Umfang / Buchart: 176 Seiten, Paperback/Taschenbuch 
Genre: Kriminalroman
ISBN: 3-88619-510-4 (meine alte Ausgabe)/ Aufbau Verlag: 978-3-293-20292-4
Info: Das Buch gibt es in verschiedenen Verlagen verlegt: Ich besitze eine alte Ausgabe vom Argument Verlag ("Ariadne Krimi" Edition), die neuere Variante der Auflage findet ihr beim Unionsverlag.

Buchrücken:

"》Geschickt führt die Autorin verschiedene Handlungsstränge zum Höhepunkt. Wer von einem Krimi Spannung erwartet, findet was sie/er sucht.《 (Kommune)
》Dieser Krimi ist ein Glücksgriff und und hält alles, was Ariadne-Krimis versprechen!《 (Die andere Seite)
》...Masako Togawa ist rüstig genug, um sich fragen zu lassen, warum sie 160 Seiten braucht, um ein Frauenwohnheim mit Klatsch und Tratsch zu möbilieren.《 (TransAtlantik)
》Sehr spannend, wie Masako Togawa Alltäglichkeiten mit dem immer präsenten Grauen verknüpft, wie hinter jeder Erklärung noch eine weitere Ebene existiert.《
》Ein ungewöhnlich spannender Thriller, der einen mit seiner dichten Atmosphäre von der ersten bis zur letzten Seite in Atem hält.《 (Mitteilungen für Frauen)"

Beschreibung vom Unionsverlag:
"Ein Frauenwohnheim in Tokio, in dem alleinstehende und berufstätige Frauen leben, soll versetzt werden, weil die Straße erweitert wird. Aufruhr tritt ins Leben der Bewohnerinnen, die sich vordergründig mit ihrem isolierten, unauffälligen Dasein abgefunden haben. Aber jede hat im Verborgenen Emotionen, Geheimnisse und Obsessionen – und alle lauern einander auf, um ihre Neugier zu stillen.
Masako Togawa entwirft ein kriminologisches Verwirrspiel, das kunstvoll und komisch die Psyche der Frauen im Japan der Nachkriegszeit auslotet."

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Kurz über die Autorin:
"Masako Togawa wurde 1933 in Tokio geboren. Sie arbeitete als Nachtclubsängerin, bevor sie zu schreiben begann und mit vierundzwanzig in einem Krimiwettbewerb den ersten Preis gewann. Ihre meisterlichen psychologischen Kriminalromane sind Bestseller und wurden vielfach preisgekrönt. Masako Togawa besitzt einen Nachtclub in Tokio und ist eine bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in Japan, berühmt für ihre Krimis, Essays und sozialkritischen Beiträge. Ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt." (aus dem Buch) Neben der Tätigkeit als Schriftstellerin und Nachtclubbesitzerin war sie auch Sängerin und Schauspielerin. Sie ist 2016 im Alter von 85 Jahren verstorben.
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Meine Meinung:
Eigentlich klingt es einfach: eine Frau mit einem roten Kopftuch überquert bei Rot eine Straßenkreuzung, wird von einem Laster erfasst und stirbt im Krankenhaus.
Es wäre jedoch kein Buch von Masako Togawa, wenn da nicht noch mehr käme. Wenn der Leser nur Stück für Stück Informationen bekommt und aus dem Dunkeln geholt wird. Und so beginnt man sich zu fragen und mitzurätseln. Etwa, warum "die Frau" in Wirklichkeit ein Mann in Frauenkleidung war. Was bezweckte er damit? Wer vermisste ihn nach seinem Tod? Und was hat das mit dem Paar mit der Sporttasche, dem Major der keine Polizei einschalten will; oder einem Frauenwohnheim, das verschoben werden soll und dessen Hauptschlüssel fehlt, zu tun?

Dreh- und Angelpunkt der Geschichte wird irgendwann dieses Frauenwohnheim, in dem nur Damen mit zwei Pförtnerinnen leben. Das Haus soll im Rahmen von Bauarbeiten verschoben werden, ein großes Spektakel, was jedoch auch dunkle Geheimnisse ans Licht bringen wird. Und jede der Damen im Haus hat so ihre Geheimnisse. Stück für Stück lernen wir die Frauen auch kennen. Mir hat es bei den ganzen Namen geholfen, mir folgende Übersicht zu erstellen (ohne all zu viel zu Spoilern): 

Die Pförtnerinnen:
Katsuko Tojo, die ältere der beiden Pförtnerinnen, die gern liest, Selbstgespräche führt und ein schlimmes Bein hat.
Kaneko Tamura, jüngere der beiden Pförtnerinnen, liest, strikt und hält gern Nickerchen im Dienst, ist eifersüchtig auf ihre ehemalige Klassenkameradin Toyoko und was diese erreicht hat.
Bewohnerinnen des Frauenwohnheims:
Toyoko Munekata, besagte Klassenkameradin und nun Bewohnerin des Frauenwohnheims, schreibt die Manuskripte ihres verstorbenen Mannes einzelgängerisch in Reinschrift ab.
Noriko Ishiyama, Hypochonderin und Messi, wird von allen wegen ihrem verrückten Verhaltens und Aussehens "Vogelscheuche-san" genannt.
Suwa Yatabe, ehemalige Weltklassemusikerin, die aufgrund eines Vorfalls einen steifen Finger hat und nun nur noch Musiklehrerin für Kinder ist, trauert der Vergangenheit nach und erfindet Notlügen um ihren Finger.
Yoneko Kimura, ehemalige Japanischlehrerin, schreibt zum Zeitvertreib und um der Einsamkeit zu entfliehen, ehemaligen Schülerinnen Briefe, bis eine sich mit einer besonderen Bitte an sie wendet.
Chikako Ueda, ehemalige Grundschullehrerin, die ihren Beruf an den Nagel hängte weil sie heiraten wollte- es aber nie hat. Führt Selbstgespräche und gilt bei den anderen Bewohnerinnen als ein wenig verrückt.
Sanreikyo, eine Sekte, die auch im Wohnheim Bewohnerinnen anwirbt. Mitglieder sind u.a.  "Thumbelina", Tomiko Iyoda (Lotterieverkäuferin), Haru Santo (Nachbarin von Chikaku Ueda).

Durch das Verschwinden des Hauptschlüssels kommen im Haus viele Dinge, Geschehnisse und die Aufdeckung alter Geheimnisse ans Licht.

Das Buch wechselt immer wieder zwischen der neutralen Erzählweise einer dritten Person, in der uns Handlungen von Personen zu Beginn auch erst einmal ohne näheren Hintergrund, höchstens mit von außen wahrnehmbaren Eigenschaften, erzählt werden ("die Frau", "der Fahrer", ...); und der Ich-Perspektive, wenn einzelne Figuren Erzählen, Denken oder sich erinnern (in Form von Selbstgesprächen, Briefen). Bei dieser wird es dann auch persönlicher, die Personen haben dann Eigenheiten ("Während ich so müßig dasitze, finde ich es ganz normal, Selbstgespräche zu führen"), wir blicken in Gefühlswelten oder die Leute bekommen Namen. Dabei kommt es auch innerhalb eines Kapitel zu solchen Wechseln, allerdings beeinflusst das den Lesefluss nicht.

Die Spannung bleibt den Roman über erhalten. Während manche Handlungen zwischendurch ruhiger erscheinen, nimmt die Geschichte gerade gegen Ende hin noch einmal Fahrt auf. Man möchte wissen, wie sich dieses oder jenes Geheimnis aufklärt und fiebert mit der ein oder anderen Figur auf der Suche nach der Wahrheit mit. Ich hatte so meine Ahnungen zu dieser oder jener Wendung, aber am Ende kam es noch zu dem ein oder anderen völlig unerwarteten Plot-Twist. Einiges konnte ich mir etwa denken, dann war es aber doch oft wieder anders und der eine Twist hat mich ehrlich gesagt völlig überrascht. Da dachte ich mir nur: Wow, habe ich so nicht kommen sehen. Manch einer mag sagen, dass das Ende vielleicht so Schwachsinn ist, ich muss sagen, mir hat es trotzdem gefallen, ich habe schon ganz andere Bücher gelesen.. 
Das Schöne am Roman ist neben seiner immer mal wieder aufkommenden Spannung (ich fand ihn wirklich gut, aber es ist auch kein Thriller, der euch nicht schlafen lässt, das nicht) zusätzlich der Einblick in die Leben und Probleme der einzelnen Charaktere. Einsamkeit und Isolation spielt eine große, zentrale Rolle und wie vielfältig sie erlebt und verarbeitet werden kann. Die Charaktere sind mit all ihren Stärken und Schwächen ausgebaut und man empfindet als empathischer Mensch schon auch Mitleid, wenn sich jemand sozial komplett abschottet und in seine Fantasiewelt abgleitet. Es hat teilweise schon etwas Trauriges, eine gewisse Melancholie. Diese unterschiedlichen Blickwinkel auf Einsamkeit und soziales Miteinander fand ich persönlich zusätzlich zu der interessanten Story der verschiedenen, verwobenen Geschichten und Geheimnisse des Frauenwohnheims sehr interessant. Ich habe es selten in Kritiken gelesen, aber ich glaube, in Togawas Büchern schwingt auch immer ein Hauch Sozialkritik mit. Hier zeigt sie auf ein Haus, in dem so viele Frauen zusammenleben und doch einsam sind Tür an Tür.

Übrigens: Das Buch wurde erstmals 1962 veröffentlicht. Sie erhielt dafür den Edogawa-Rampo-Preis. Der Roman spielt dabei in dem Wohnhaus, in dem sie mit ihrer Mutter aufwuchs.

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Eine Stelle aus dem Buch:

  • "Der Mensch ist wie eine Kreatur, die den Ursprung ihres Daseins erforschen möchte. Wie ein Gefangener kratzt er an den Wänden seiner Zelle, um sich zu vergewissern, dass er noch am Leben ist, und um die verbrachte Zeit zu markieren."

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Fazit: 
Ein interessanter, etwas anderer Kriminalroman mit vielen Wendungen und Wirrspielen, welcher gleichzeitig das Thema Frauen und Leben in der Nachkriegszeit Japans beleuchtet, auch Themen wie Einsamkeit und deren möglichen Folgen. Mir persönlich hat er sehr gefallen, aber ich mag einfach Masako Togawas Schreibstil und ihre immer wieder aufkommenden Plot-Twists in ihren Romanen.


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